Medizin für alleWir müssen reden!

Pflegenotstand: „Wir steuern langsam, aber sicher, auf eine Katastrophe zu.“

von
Dorothee Dahinden

Pflegenotstand. Ein Thema, das unsexy klingen mag. Aber es geht uns alle an. Wir alle können, Patient X sein. Zum Beispiel als Schwangere. Als Eltern. Oder als Unfallopfer.


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Die Instagrammerin & Intensivkrankenschwester Franzi @thefabulousfranzi und der  Youtuber & Anästhesist Dr. Tobias Weigl reden in diesem Interview Klartext:


Liebe Franzi, lieber Tobias. Pflegenotstand…Ein Thema, das für unsere Generation erst einmal unsexy klingen mag. Eins, was eventuell nicht angeklickt wird, weil…der Gedanke vielleicht im Raum steht: ,Puh, was geht mich das an?‘ Warum sagt ihr an dieser Stelle: Halt! Stop! Es geht uns alle an!‘

Pflegenotstand
Foto: @thefabulousfranzi

Franzi: Zum einen ist die Diskussion über den Pflegenotstand auch eine Art „Aufklärungsarbeit“. Zu wissen, warum man in der Notaufahme 5 Stunden wartet oder auf Station 30 Minuten auf sein Glas Wasser warten muss, ist viel wert. Die Pflege ist keine Dienstleistung und oft werden Patienten wütend, aggressiv und manchmal sogar handgreiflich. Den Gedanken zu streuen, dass wir unser bestes geben, aber darin einfach limitiert sind, ist mir wichtig. Ich verwende gerne den Hashtag #pflegegehtunsallean. Warum? Wer von uns kann sagen, dass er nie auf Klinik, Medizin oder Pflege angewiesen sein wird? Niemand!

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Pflegenotstand: Ohne Pflege können wir Ärzte unsere Arbeit nicht machen.

Für faire Arbeitsbedingungen und optimale Pflege zu kämpfen, das tun wir nicht für die anderen, die in diesen Bereichen arbeiten. Das tun wir auch für uns selbst.

Pfelegenotstand
Foto: Dr. med. Dr. rer. pol. Tobias Weigl

Tobias: Zugegebenermaßen ist die Pflege jahrelang stiefmütterlich behandelt worden – sowohl von der Gesellschaft, inklusive uns Ärzten, als auch der Politik. Mag der Arzt noch Anerkennung und ein Dank bekommen, so ist das in der Pflege oftmals nicht so. Ohne Pflege können aber auch wiederum wir Ärzte unsere Arbeit nicht machen, weder auf Station noch im OP.

Und zugegebenermaßen wird das vielen von uns auch so richtig jetzt erst mit dem Pflegenotstand bewusst – vielleicht mit ein Grund, warum es überhaupt auch soweit gekommen ist.

Pflegenotstand – was heißt das genau?

Franzi: Schlichtweg: Fachkräftemangel. In allen Bereichen, ob ambulante oder stationäre Pflege: Es fehlt an qualifiziertem Personal.

Tobias: Konkret erlebe ich, dass Operationen ausfallen oder verschoben werden müssen. Das betrifft natürlich keine Notfälle und es wird auch alles, so meine Erfahrung, so gemanaged, dass es für den Patienten natürlich keine negativen medizinischen Konsequenzen hat. Aber es kann sein, dass der Patient dann um einen Tag verschoben wird. Das mag medizinisch keinen Unterschied machen, aber für den Betroffenen ist das (psychisch) schlecht und jeder von uns würde sich selber darüber ärgern.

Pflegenotstand: Der Beruf ist unattraktiv geworden.

Was ist das Problem genau? Personalmangel? Schlechte Bezahlung?

Franzi: Dass wir heute an diesem Punkt stehen, ist ein Zusammenspiel aus vielen Faktoren. Zum einen ist die Zahl Pflegebedürftiger jedes Jahr gestiegen und das wird sie auch weiter tun. Gleichzeitig kam kein Personal nach, wurde eingespart und die Ausbildungszahlen der Schüler stagnieren schon seit einigen Jahren.

Der Beruf in der Pflege ist unattraktiv geworden, zum einen wegen der Bezahlung (vergleicht man die Zuschläge für Feiertage, Wochenenden und Schicht mit der Industrie, ist es geradezu lächerlich!), der Arbeitszeiten (10 Tage am Stück, 3-Schicht-System, Feiertage, Wochenenden) und mittlerweile auch wegen des schlechten Bildes in der Öffentlichkeit. Prinzipiell gilt: Die vielen offenen Stellen können nicht besetzt werden, der Markt ist leergefegt.

Schüler werden verheizt.

Die fehlenden Kollegen (und somit die Arbeitsbelastung) müssen das vorhandene Personal mittragen. Überbelastete Beschäftigte werden häufiger krank, sie steigen aus dem Beruf aus oder rutschen ins Burnout. Schüler erhalten in der Praxis keine richtige Anleitung, werden oft wie examinierte Kollegen eingesetzt und sprichwörtlich am Anfang ihres Berufslebens schon ‚verheizt‘.

Wir sind leider emotional erpressbar!

Zudem sind wir gewerkschaftlich sehr schlecht organisiert und man kann sich denken, dass ein Streik an Kliniken nicht so weh tut wie am Flughafen oder bei der Bahn. Finanzieller Schaden ist schmerzhaft und wirkt da besser. Wir können aber keine Menschen sterben lassen, um unsere Belange durchzusetzen. Der Schaden, der bei Klinikstreiks entsteht, ist von daher sehr überschaubar. Allgemein sind wir leider emotional erpressbar, ob es nun um Streik, Einspringen oder Überstunden geht.

Tobias: Ja, natürlich gibt es unbesetzte Stellen und viele von diesen werden nun gezielt mit ausländischem Personal, z.B. aus Asien oder Osteuropa, besetzt. Das ist zum einen gut und wir können darüber glücklich sein, zum anderen birgt das aber auch Herausforderungen. Und v.a. sehe ich die Gefahr, dass damit Klinikleitungen, die Politik etc. eine „billige und schnelle Lösung“ gefunden haben, ohne das Problem generell anzugehen.

Pflegenotstand: Das Miteinander hat sich verändert.

Ich kann nicht beurteilen, ob das Pflegepersonal im Vergleich zu früher überlasteter ist. Definitiv kann ich beurteilen, dass sich das Arbeitsklima, das Wohlbefinden, das Miteinander zum Negativen verändert hat. Anders ausgedrückt: Wenn man sich respektiert und wertgeschätzt fühlt, dann empfindet man Überstunden oder stressige Arbeit als weniger anstrengend als eine Arbeit gemäß Arbeitszeitschutzgesetz, aber in schlechter Arbeitsatmosphäre. So meine persönliche Meinung.

Wie schlimm ist die Situation in Deutschlands Kliniken?

Franzi: Viele Kliniken müssen Betten sperren und können keine Patienten aufnehmen, weil es an Personal fehlt. Die MHH ist im Herbst letzten Jahres damit an die Presse gegangen. Kreißsäle müssen Schwangere weiter verweisen, die übrigens oft auch keine Hebammen finden, die die häusliche Nachsorge übernehmen. Das Stammpersonal läuft am Limit und viele sind am Ende ihrer Kräfte. Dadurch sind natürlich die Patienten, die durch den Zeitmangel nicht optimal versorgt werden, unzufrieden. So entsteht ein Teufelskreis.

Pflegenotstand: Es ist 5 vor 12!

Tobias: Ich denke es ist 5 vor 12. Im Gesundheitssektor ist es halt auch so, dass Probleme, Missstände oftmals kompensiert werden und sich immer jemand findet, der „die Lücke füllt“. Wir arbeiten ja auch in diesem Beruf bzw. Bereich, weil wir eine gewisse Einstellung, Denke, Empathie haben. Dazu gehört auch, sich selber zu opfern für Notleidende, also Patienten.

Daher merkt man nicht, wie fortgeschritten der Notstand schon ist. Und dass dieser nicht erst seit 1-2 Jahren, sondern schon in den letzten 10-15 Jahren, für ein Land wie Deutschland nicht angemessen ist.

Gibt es eine Situation, die sich bei euch eingebrannt hat?

Franzi: Ich habe gestandene Kollegen erlebt, die geweint haben. Einfach, weil sie nicht mehr wussten, wo man aufhören oder beginnen sollte. Eine Arbeitslast, die nicht zu bewältigen schien. Wenn sich diese Tage häufen, steigt der Druck ins Unermessliche. Wir wollen unsere Patienten adäquat versorgen und nicht nur eine Grundversorgung gewährleisten.

Tobias: Für mich gibt es nicht die eine Situation, sondern leider muss ich sagen, dass fast tägliche Gespräche über genau dieses Thema stattfinden, direkt oder indirekt.

Pflegenotstand: Ich verzichte auf Pausen.

Mit welchem Gefühl ziehst du, liebe Franzi, deine Arbeitskleidung aus und verlässt das Krankenhaus. Kannst du das alles hinter dir lassen?

Franzi: Kein Tag ist wie der andere. Das ist eigentlich das Schöne an diesem Beruf. Manchmal weiß ich, ich hatte alles im Blick, alle sind optimal versorgt und mir ist nichts entgangen. Dann gibt es aber auch Tage, an denen ich diese Versorgung nur gewährleisten konnte, weil ich auf meine Pause verzichtet habe und gerannt statt gegangen bin. Diese Dienste häufen sich in den letzten Jahren.

Ich kann das Berufliche sehr gut vom Privaten trennen, auch Dank meines Mannes. Als Mediziner versteht und sieht er unsere Situation, wir reden sehr oft zuhause über schwierige Patienten oder traumatische Fälle, die mich beschäftigen

Das Bild des Pflegeberufes muss sich in den Köpfen verändern.

Was muss jetzt eurer Meinung nach passieren?

Franzi: Wir brauchen dringend Kollegen. Nachwuchs. Und um den zu akquirieren MUSS der Beruf zwingend attraktiver gemacht werden! Stammpersonal mit Berufserfahrung müssen wie Juwelen behandelt werden, um es zu halten. Das beinhaltet eine finanzielle Aufwertung, eine flexiblerer Dienstplangestaltung sowie AUFKLÄRUNG nach außen.

Ganz wichtig wären Ausbildungsoffensiven an Schulen, um eine wichtige Aussage zu treffen: „Der Pflegeberuf ist anspruchsvoll. Alleine die Ausbildung ist alles andere als ein Spaziergang. Man trägt das höchste Maß an Verantwortung: nämlich das für Menschenleben. Man ist Teil oder treibende Kraft in Genesungsprozessen und ganz ehrlich, es gibt wenige Dinge die genau so sinnhaft sind!“

Das muss hinaus in die Welt, in die Köpfe junger und alter Menschen, die ein komplett falsches Bild vor Augen haben, das sich leider über die Jahre entwickelt hat.

Wir müssen uns fragen: Was ist mir meine Gesundheit und damit die medizinische Versorgung in Deutschland wert?

Tobias: Es muss unbedingt ein Ende der Ökonomisierung der Medizin einsetzen. Wir sind alle nur Menschen und es ist niemandem zu verübeln, dass er sich gemäß der Gesetze und Regeln verhält. Dass ein niedergelassener Arzt so abrechnet, wie er abrechnet, dass sich eine Pflegekraft einen Beruf außerhalb der Pflege sucht bzw. diesen nicht erlernen möchte, dass eine Klinikleitung Personal weiter einspart, um kostendeckend zu arbeiten, das sollte von der Politik und damit auch von der Gesellschaft verändert werden.

Heißt konkret: Was ist mir meine Gesundheit und damit die medizinische Versorgung in Deutschland wert? Bin ich bereit dafür mehr Geld/ Steuern zu bezahlen? Sollte in anderen Bereichen dafür eingespart werden? Kann ich selber das Gesundheitssystem entlasten? Unser Gesundheitssystem und die dortigen Missstände sind das Resultat unserer Politik und diese wiederum bestimmen wir. Es liegt also auch viel an uns selbst!

Pflegenotstand. Egal, ob Schwangere, Pflegefall oder Unfall: Wir können alle zu dem Patienten X werden!

Was würdet ihr dem Bundesgesundheitsminister Spahn gerne sagen?

Franzi: Im Prinzip genau das gleiche. Die Politik therapiert Symptome und nicht die Krankheit. Stellen werden geschaffen, die nicht zu besetzen sind. Das Personalstärkungsgesetz inklusive inadäquater Untergrenzen ist durch, es ist nicht das erste. Für mich und meine Kollegen hat sich in der Praxis, an jedem Tag an dem wir am Bett stehen, rein gar nichts geändert oder verbessert. Trotz Gesetzen, Beschlüssen und viel Gerede. Im Gegenteil.

Wir steuern langsam aber sicher auf eine Katastrophe zu. Maßnahmen, um die Situation zu entschärfen, liegen auf der Hand. Nur ergreift sie leider niemand. Letztlich werden wir alle zu diesem Patienten X, der auf Pflege angewiesen ist und dann unter den Umständen leidet. Ob als Schwangere, Pflegefall oder Unfall. Ob als Kind, das keinen Pflegedienst für die Eltern findet oder als Eltern, die ein krankes Kind haben, das kein Bett auf der Intensivstation bekommt. Wir sitzen alle im selben Boot, früher oder später.

Manche Entscheidungen wirken mitunter realitätsfremd!

Tobias: Ihn bitten, nicht nur seinen Beratern und Experten zuzuhören, sondern konkret auch Betroffenen aus der Pflege, aus dem Krankenhaus. Manche Entscheidungen wirken mitunter realitätsfremd.


Wir haben übrigens das Bundesgesundheitsministerium um ein Interview zum Thema gebeten. Leider haben wir eine Absage bekommen. Eine Begründung, warum – die gab es nicht. Extrem schade, finden wir.

Hier geht es zum YouTube-Kanal von Dr. Tobias Weigl. Und wenn ihr schauen möchtet, wo ihr in auf den anderen Social Media-Kanälen findet, dann schaut gerne auf seiner Homepage vorbei.

Übrigens, wir haben insgesamt drei Interviews mit Intensivkrankenschwester Franzi auf MutterKutter. Diese beiden gibt es hier noch für euch:

Netzhetze: „Über Online-Bashing & Hate muss geredet werden.“

Selbstmord nach Hilferuf bei Instagram: „Ich hatte im Nachhinein Angst, etwas überhört zu haben.“

Und falls ihr Kontakt mit Franzi aufnehmen möchtet – ihr findet sie hier bei Instagram.

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