Kindeswohlgefährdung: „Kinder haben in diesen Tagen keine Lobby.“
Jugendamtsmitarbeiterin Lena* über ihre Sorge um viele Kinder während der Corona-Pandemie. Autorin: Dorothee Dahinden
Kindeswohlgefährdung: Jugendamtsmitarbeiterin Lena * (Name von der Redaktion geändert) erklärt, wie wir Kindern in schwierigen familiären Verhältnissen gerade jetzt helfen können.
Liebe Lena, du arbeitest beim Jugendamt. Könntest du uns kurz beschreiben, was deine Aufgaben sind?
Das in ein paar Sätzen zu erklären ist gar nicht so leicht Viele Menschen verstehen das Jugendamt als „klassisches Jugendamt“ im Kinderschutz. Das ist ein großer und wichtiger Aufgabenbereich.
Es gibt aber auch weitere Aufgabenbereiche. Einen Großteil der Arbeit macht die Bewilligung und Betreuung von Hilfen zur Erziehung aus. Das sind Hilfen, die alle sorgeberechtigten Eltern beim Jugendamt beantragen können, um Hilfe bei der Förderung und Erziehung ihrer Kinder zu erhalten. Hier gibt es viele verschiedene Hilfeformen. Weitere Aufgabenbereiche sind zum Beispiel die Jugendgerichtshilfe, Trennungs- und Scheidungsberatung, Mitwirkung bei Sorgerechts- oder Umgangsverfahren beim Familiengericht. Die Zuständigkeiten für die unterschiedlichen Bereiche sind von Stadt zu Stadt teils unterschiedlich geregelt.
Kindeswohlgefährung: „Es ist unvorstellbar, was manche Kinder in jungen Jahren schon erleben müssen.“
Du erlebst sicherlich auch viel Leid von Kindern: Welche Geschichten sind bei dir in Erinnerung geblieben?
Ja das stimmt. Aus Respekt vor den Kindern möchte ich hier aber nicht näher auf konkrete Beispiele eingehen. Es ist unvorstellbar, was manche Kinder in jungen Jahren schon erleben müssen.
Du hast gesagt, dass du in Corona-Zeiten Sorge um viele Kinder hättest. Warum genau? Was ist in manchen Familien jetzt los – was bedeutet „Social Distancing“ und „keine anderen Menschen treffen“ für Kinder, deren Eltern schon vorher überfordert waren?
Ich habe Sorge um viele Kinder in dieser Zeit. Das gesamte soziale Netzwerk, welches die Familiensysteme vorher gestützt hat, ist ohne Vorbereitung weggebrochen. Für viele Kinder bedeuten Kita, Schule oder soziale Projekte eine Auszeit und die Möglichkeit sich vom Familiensystem zu erholen, Schutz zu finden, sich zu entlasten, Struktur zu erleben und so vieles mehr. Eltern, die zuvor durch eben dieses Netzwerk Entlastung erfahren haben, können jetzt schneller an ihre Grenzen geraten und möglicherweise ihre Kontrolle verlieren.
Kindeswohlgefährdung: „Auf Grund des Social Distancing und der damit einhergehenden sozialen Isolation ist die soziale Kontrolle sehr viel geringer. „
Ich habe vor allem Sorge um die Kinder aus belasteten Familien, die nicht schon vorher durch das Jugendamt betreut wurden und demnach nicht bekannt sind. Kinder, die im Moment nicht gesehen und unterstützt werden können, weil niemand davon weiß oder die Menschen, die davon wissen, nichts dagegen tun.
Wenn zu einer sowieso schon vorhandenen Überforderung auch noch andere Aspekte wie finanzielle Sorgen auf Grund der aktuellen Krise oder die Ungewissheit, wie lange diese Phase noch andauern wird, hinzukommen, besteht die Gefahr, dass die innere Belastungsgrenze überschritten wird. Auf Grund des Social Distancing und der damit einhergehenden sozialen Isolation ist die soziale Kontrolle sehr viel geringer. Das kann zur Folge haben, dass Eltern vorher vorhandene Hemmungen verlieren und Grenzen überschreiten. Das Kind kann ja nirgendwo hin und es erzählen.
„Gewalt ist nicht alles, was Eltern ihren Kindern antun.“
Konkret gefragt, auch wenn mir die Frage schon beim Schreiben weh tut: Was tun überforderte Eltern ihren Kindern an – das variiert ja sicher von Fall zu Fall.
Die Frage tut tatsächlich auch beim Antworten weh. Ich finde das sehr schwer zu beantworten, weil es eben so variiert. Ich möchte an dieser Stelle gerne nur auf die Beispiele eingehen, die zur jetzigen Situation auch von Mitmenschen bemerkt werden können. Gewalt ist sicherlich die am Besten wahrzunehmende Gefahr. Verbale Gewalt, von regelmäßigem Anschreien bis hin zu verbaler Erniedrigung (Du bist nichts wert, ich hasse dich, du bist scheiße). Körperliche Gewalt gegenüber Kindern (schubsen, Schläge, Tritte, Würgen, Kneifen usw.) aber auch Häusliche Gewalt ist ein wichtiges Thema. Kinder die schutzlos mit ansehen müssen, wie ein Elternteil misshandelt wird.
Gewalt ist nicht alles, was Eltern ihren Kindern antun. Unterversorgung, schlechte medizinische Versorgung, sexueller Missbrauch und so viel mehr könnte an dieser Stelle weiter ausgeführt werden. Aber wer soll das in diesen Zeiten bemerken, wenn sich die Familie vollkommen isoliert?
Kindeswohlgefährdung: „Wir haben ein entsprechendes Schutzkonzept erarbeitet.“
Wie könnt ihr den Kindern und Familien jetzt helfen? Geht ihr auch während Corona in Familien? Wie kann ich mir das vorstellen?
Wir arbeiten weiter, eingeschränkter, aber bei einer Kindeswohlgefährdungsmeldung gehen wir auch weiterhin in die Familien. Wir haben ein entsprechendes Schutzkonzept erarbeitet, um das Infektionsrisiko so gering wie möglich zu halten. Kinderschutz ist nichts, was warten kann.
Was können wir als Mitbürger, Nachbarn oder Bekannte tun, wenn wir das Gefühl haben: In der Familie läuft was schief – wohin können wir uns wenden?
Eigentlich das Selbe wie sonst auch. Oft höre ich im Nachhinein von Freunden oder Nachbarn der Familien, dass sie das schon sehr lange wussten und ärgern sich dann, dass das Jugendamt erst so spät tätig geworden ist. Wir sind angewiesen auf Meldungen um überhaupt tätig werden zu können.
Kinder sind angewiesen auf jeden Hinweis!
Oft ist es schwer greifbar: War das Schlagen jetzt einmalig? Hab ich das überinterpretiert? Ich möchte mich nicht in das Leben meiner Freundin oder Nachbarin einmischen. Es wird bestimmt jemand mitbekommen haben und der wird sich kümmern. Aber was wenn nicht? Wir, aber vor allem die Kinder, sind angewiesen auf jeden Hinweis, denn nur so können wir überhaupt Kontakt zu den Familien aufnehmen.
„Erlebst du mit, dass jemand körperliche Gewalt angetan wird, ruf die Polizei.“
Konkret gesagt gibt es verschiedene Möglichkeiten und das hängt natürlich auch von der Beobachtung und sicherlich auch von der Beziehung zur betroffenen Familie ab. Hast du nur ein Gefühl, sprich es an wenn du kannst. Mach darauf aufmerksam, was du vielleicht beobachtest hast, biete Unterstützung an. Erlebst du mit, dass jemand körperliche Gewalt angetan wird, ruf die Polizei. Gibt es konkrete Beobachtungen, die auf eine Gefährdung eines Kindes hindeuten, nimm Kontakt zum zuständigen Jugendamt auf oder in akuten Situationen, ruf auch hier die Polizei. Lieber stellt sich ein Hinweis als keine Kindeswohlgefährdung heraus, als eine Kindeswohlgefährdung, der nicht nachgegangen werden kann, weil sie nicht gemeldet wurde. Meldungen beim Jugendamt können immer auch anonym erfolgen.
Kindeswohlgefährdung: Eltern können sich auch Rat suchend an das zuständige Jugendamt wenden!
Und wo finden Eltern, die sich gefordert bzw. überfordert fühlen, (jetzt) Hilfe?
Es gibt viele Beratungsstellen, die jetzt auch telefonische Beratung anbieten. Das kann jeder gut für die jeweilige Stadt googeln oder ggf. beim zuständigen Jugendamt erfragen. Aber grundsätzlich können sich Eltern auch Rat suchend an das zuständige Jugendamt wenden. Ich möchte an dieser Stelle auch gerne einbringen, dass sich in dieser besonderen Zeit wahrscheinlich jeder Elternteil zeitweise überfordert fühlt. Das ist okay! Wichtig ist nur im Kopf zu haben, dass es für die Kinder nicht anders ist.
„Das Sorgerecht ist ein hohes Gut.“
An dieser Stelle möchte ich gerne noch mit einem weit verbreitetem Vorurteil aufräumen – das hilft dir vielleicht dir Unterstützung zu holen. Meine Arbeit mit Familien ist zu Beginn fast immer davon geprägt, die große Sorge zu nehmen, dass die Kinder sofort aus der Familie herausgenommen werden. Das Ziel unserer Arbeit ist es, die Eltern in ihrer Erziehung dahingehend zu unterstützen, dass die Kinder in den Familien verbleiben können. Das Sorgerecht ist ein hohes Gut. Die Herausnahme eines Kindes (Inobhutnahme) kann ohne Zustimmung der sorgeberechtigten Eltern durch das Jugendamt nur kurzfristig erfolgen. Für eine langfristige Entscheidung muss das Familiengericht eingeschaltet werden, das dann eine Entscheidung trifft. Eine Herausnahme erfolgt nur, wenn gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegen und die Eltern nicht in der Lage sind diese abzuwenden. Ohne Grund erfolgt keine Inobhutnahme.
Kindeswohlgefährdung: Wir müssen alle ein bisschen feinfühliger auf unser Umfeld achten!
Sich bei Bedarf Hilfe zu holen, zeugt von Stärke nicht Schwäche und ist ein wichtiger und richtiger Schritt für die ganze Familie.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir in diesen Zeiten vielleicht alle ein bisschen feinfühliger auf unser Umfeld achten müssen.
Kinder haben in diesen Tagen keine Lobby. Sie sind auf ihre Mitmenschen angewiesen.
Hilfe & Informationen zu Kindeswohlgefährdung und Kinderrechten gibt es online unter anderem hier:
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