True Familie

Diagnose SCN8A: Wir leben in ständiger Angst um unsere Tochter!

Über das Leben mit der Genmutation SCN8A - Mama Tamara Böhm erzählt uns von ihrem Familienalltag.

von
Dorothee Dahinden

SCN8A – Mama Tamara erzählt euch von der seltenen Krankheit ihrer Tochter Marie. Berührende Einblicke in ein Familienleben.

Das bedeutet die Krankheit SCN8A für uns

Unser kleiner Sonnenschein ist jetzt 21 Monate alt. Seit uns die Diagnose mitgeteilt wurde, leben wir mit der ständigen Angst, der nächste epileptische Anfall könnte vielleicht der letzte sein. Aufgrund der rein zufällig auftretenden Genmutation SCN8A leidet Marie an einer schweren Form von epileptischen Anfällen, die zum Teil mit tonisch-klonischen Anfällen einhergeht.

Leider ist Marie eines der Kinder, die als Cluster-Kinder bezeichnet werden. Als „Cluster“ oder „Serien-Anfälle“ werden mehrere an einem einzigen Tag auftretende, epileptische Anfälle bezeichnet. Trotz der uns vorliegenden Notfallmedikamente lässt sich diese Gefahr leider nicht stoppen. Für uns bedeutet das im Klartext: jeder neue Anfall wird uns wieder mit Blaulicht auf die Intensivstation bringen.

Dort können wir nur die Sekunden zu zählen und von ganzem Herzen zu hoffen, dass unsere geliebte kleine Tochter auch diesmal zu uns zurückkehren wird. Mehr können wir nicht machen.

Was ist SCN8A genau? Kurz erklärt:

Das SCN8A Gen steuert die Natriumkanäle in den Zellmembranen der Gehirnzellen. Bei normaler Funktion öffnen sich sogenannte Natrium-Tore, wodurch wiederum die für Gehirnimpulse benötigte elektrische Spannung erzeugt wird. Danach schließen sie sich sofort wieder. Bei einer Mutation des SCN8A-Gens funktioniert dieser Mechanismus aber nicht. Das bedeutet, dass diese Tore oft wesentlich länger geöffnet bleiben und ununterbrochen Natrium-Ionen durchlassen. Das führt dann wiederum zu einer Überfunktion der Gehirnaktivität. Epileptische Anfälle werden auch gerne als „Gewitter im Kopf“ beschrieben.

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Der Verlauf einer SCN8A-bedingten Epilepsie ist von Fall zu Fall verschieden. Von einer milden Entwicklungsverzögerung bis hin zur Schwerstbehinderung ist alles dabei. Das Risiko für einen plötzlichen Tod – den sogenannten „Sudden Unexpected Death in Epilepsy Patients“, kurz SUDEP – ist verhältnismäßig hoch.

Welche Auswirkungen hat die Krankheit SCN8A?

Das Spektrum der Auswirkungen von SCN8A ist leider sehr groß. Die Symptome reichen von leichten Verhaltens- oder Bewegungsstörungen bis hin zu schweren Entwicklungs- und kognitiven Verzögerungen. Demzufolge muss der Verlauf der Krankheit bei jedem Kind individuell betrachtet werden. Bei Marie geht unsere Humangenetikerin von einem intermediären Verlauf aus, der weder extrem schwer noch leicht sein wird.

Die meisten von dieser Diagnose betroffenen Kinder sind allerdings ihr ganzes Leben lang stark beeinträchtigt. Beispielsweise können sie nicht ohne fremde Hilfe sitzen und essen und nicht sprechen. Viele von ihnen müssen mit einer Magensonde oder mit einem Tubus zur Beatmung leben, da sie bei einem sogenannten „Status Epilepticus“, einem außergewöhnlich lang andauernden epileptischen Anfall oder einer Reihe von kurz aufeinanderfolgenden Anfällen, einen Herzstillstand erleiden würden und nicht mehr eigenständig atmen könnten.

„Bisher gibt es für die Erkrankung SCN8A leider noch kein Heilmittel.“

Es sind aber auch Fälle bekannt, in denen über einen vergleichsweise langen Zeitraum hinweg keine Anfälle auftreten, bei denen es aber dennoch zu Verzögerungen in der Entwicklung des Kindes kommt.

Bisher gibt es für die Erkrankung SCN8A leider noch kein Heilmittel. Bedauerlicherweise verlieren aus diesem Grund sehr viele SCN8A-Kinder den Kampf gegen diese schreckliche Krankheit bereits im Baby- oder im Kleinkindalter. Zusätzlich geht die SCN8A-Epilepsie häufig mit einer Medikamentenresistenz einher.

Wie haben wir davon erfahren, dass Marie SCN8A hat?

Wie die meisten SCN8A-Kinder kam auch unsere Marie dem Anschein nach gesund zur Welt. Das durchschnittliche Alter für das Auftreten der ersten Anfälle liegt bei dieser Erkrankung bei ungefähr vier Monaten, wonach sich die Anfälle bis über das Alter von zehn Jahren hinaus fortsetzen.

Unsere kleine Marie war genau vier Monate alt, als sie ihren ersten Anfall erleiden musste. Darauf folgte eine scheinbar endlose Reihe von Untersuchungen, wie zum Beispiel eine CT- und eine EEG-Untersuchung, eine LP (Lumbalpunktion) und eine MRT-Untersuchung. Da diese alle ohne Befund blieben, schwand unsere Hoffnung auf eine schnelle Heilung mehr und mehr. Erst eine humangenetische Untersuchung führte schließlich zu der Diagnose.

Marie und ihr Papa.// Credit: Tamara Böhm @dearestchildofmine (Instagram)

Was bedeutet SCN8A für Maries Gesundheit und für unseren Familienalltag?

Obwohl ich euch mit diesem Text hoffentlich einen kleinen Einblick in unser Leben geben kann, glaube ich nicht, dass sich irgendjemand, der sich nicht in dieser Lage befindet, vorstellen kann, wie der Alltag mit einem schwer kranken Kind tatsächlich aussieht.

Im Moment zeigt sich bei Marie zwar ein intermediärer Verlauf, dennoch muss unser kleiner Sonnenschein täglich sehr viele Medikamente nehmen. Zusätzlich leidet Marie auch noch an einer starken Elektrolytstörung, einer sogenannten Hyponatriämie, die durch eines der Heilmittel gegen Epilepsie hervorgerufen wurde, das ihr in extrem hohen Dosen verschrieben wurde.

„Es kommt regelmäßig vor, dass unsere Nacht schon um 2.00 Uhr oder um 3.00 Uhr endet.“

Wegen der unzähligen Termine bei Neurologen & Nephrologen und der vielen verschiedenen Therapien (z.B. Physiotherapie) quillt unser Terminkalender Woche für Woche beinahe über. Das ist alles nicht ganz einfach. Vor allem dann nicht, wenn wir bedenken, dass Marie aufgrund ihrer Krankheit nie länger als ein paar Stunden am Stück schläft. Es kommt regelmäßig vor, dass unsere Nacht schon um 2.00 Uhr oder um 3.00 Uhr endet. Weil Marie rund um die Uhr betreut werden muss, ist es für uns selbstverständlich geworden, dass einer von uns immer bei ihr ist.

Das Leben mit einem kranken Kind:

ein Einblick in unsere Gedanken- und Gefühlswelt

Seit der Diagnose hat sich unser Leben natürlich grundlegend verändert. Zwischen all den Terminen bachten wir aber trotz allem darauf, uns nach Möglichkeit ab und an kleine Auszeiten zu gönnen und das Leben mit anderen Augen zu sehen.

Wenn man ein krankes Kind hat, das man über alles liebt, erkennt man sehr schnell, was im Leben wirklich zählt. Den Alltag, den wir vor der erschütternden Diagnose gekannt haben, wird es für uns nie mehr geben. Das wissen und das akzeptieren wir. Auch dies wird nicht das Geringste daran ändern, dass uns unser Sonnenschein Marie – ebenso wie ihre wundervolle ältere Schwester – absolut alles bedeutet und dass sie unser größtes Glück auf dieser Erde ist und bleibt. Jedem Menschen, der ihr begegnet, schenkt sie gern ein Lächeln. Für Marie und für alle anderen unter der heimtückischen Erkrankung SCN8A leidenden Kinder wünschen wir uns nichts anderes als ein unbeschwertes Leben ohne die schrecklichen Schmerzen, die ihre kleinen Körper viel zu oft ertragen müssen.

Marie ist so stark – und sie gibt uns dadurch Kraft

Credit: Tamara Böhm @dearestchildofmine (Instagram)

Wir lieben Marie über alles und wir sind unbeschreiblich dankbar dafür, ihre Eltern sein zu dürfen. Obwohl sie leider schon viel zu oft durch die Hölle gehen musste, ist sie ein bezauberndes und beeindruckend willensstarkes Mädchen. Selbst dann, wenn es ihr gerade furchtbar schlecht geht, gibt sie niemals auf. Und sie lacht unheimlich gern und oft. Dafür, wie sehr wir sie lieben, gibt es keine Worte. An jedem neuen Tag lernen wir etwas von ihr.

Mit jedem Lächeln überträgt sie einen Teil ihres außergewöhnlichen Mutes und ihrer Kraft auf uns. Ihr süßes Lächeln wirkt nämlich ansteckend und es kann wahre Wunder bewirken. Sobald uns Marie anlächelt, ist deshalb plötzlich alles nur noch halb so schwer. Ja, wir lieben das Leben mit ihr. Für unsere Große ist sie eine ganz tolle, kleine Schwester und für uns ein unendlich kostbares Geschenk. Irgendwo tief in mir spüre ich, dass unsere geliebte Marie hier ist, um ihre Geschichte zu erzählen. Weil ich felsenfest davon überzeugt bin, werden wir alles in unserer Macht Stehende tun, um sie dabei zu unterstützen.

Selbst Ärzt*innen müssen oft erstmal recherchieren, was SCN8A mit sich bringt.

Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass viele Mediziner*innen auf Anhieb wissen, um was es sich bei der Erkrankung SCN8A handelt. Da diese Krankheit so extrem selten auftritt, müssen selbst die Ärzt*innen oftmals erst einmal recherchieren und die Fachliteratur durchforsten, um sich darüber zu informieren, welche Auswirkungen und welche Folgen SCN8A mit sich bringen kann. Ich kann aber mit gutem Gewissen sagen, dass wir ein ganz tolles Team von Ärzten an unserer Seite haben, die sich fachlich ebenso wie menschlich sehr gut um Marie kümmern. Wir sind längst ein perfektes Team und wir nehmen jede neue Hürde gemeinsam in Angriff.

Der Stand der Forschung

Bei meinem letzten Interview hat mich die Frage nach dem Stand der Forschung noch schmerzlich berührt. Zu der Zeit gab es für die SCN8A-Kinder nämlich noch gar keine nennenswerte Forschung. Heute kann ich euch mit einem freudestrahlenden Lächeln berichten, dass sich das endlich geändert hat.

Das nahezu unglaubliche Engagement der The Cute Syndrome Foundation hat den Weg dafür geebnet, dass wir uns nun bereits in der Phase II einer bahnbrechenden Studie befinden, in der ein Medikament entwickelt wurde. Ansprechpartner von zwei Kliniken verlinke ich euch unter dem Artikel.

Wie selten ist diese Krankheit eigentlich genau?

Marie gehört weltweit zu den nicht einmal 400 Kindern, die an SCN8A leiden. Die Wahrscheinlichkeit, von dieser extrem seltenen Genmutation betroffen zu sein, liegt bei 1 : 15.000.000.

Darum ist es wichtig, möglichst viele Menschen auf diese Krankheit aufmerksam zu machen?

Wir müssen und wollen unbedingt etwas daran ändern, dass noch immer viel zu viele SCN8A-Kinder an dieser grausamen Genmutation sterben. Deshalb ist es unser Herzenswunsch, die schreckliche Erkrankung unserer kleinen Marie in etwas Positives zu verwandeln. Wir träumen von einer Welt, in der kein Kind durch SCN8A in permanenter Lebensgefahr schwebt und in der keine Eltern in ständiger Angst leben müssen. Nichts ist wertvoller als das Leben eines Kindes und nichts ist stärker als unsere Liebe zu ihnen.

Das strahlende Lächeln unserer Tochter lässt uns an eine bessere Welt glauben, an eine Welt der Menschlichkeit und des Mitgefühls. Deshalb nutzen wir jede sich bietende Gelegenheit, um die Menschen über diese Krankheit zu informieren und um sie um ihre Hilfe zu bitten, – für Marie und für alle unter SCN8A leidenden Kinder auf dieser Erde.

Mehr Infos:

Schön Klinik in Vogtareuth, Ansprechpartner ist Prof. Dr. med. Gerhard Josef Kluger

Uniklinikum Tübingen, Ansprechpartner wäre hier Dr. Michael Alber.

♦ Mehr Infos zur Genmutation findet ihr auf The Cute Syndrome Foundation

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