Alltagsrassismus: „Meine Zukunft sind antirassistische Kinder.“
Unsere Sensitivity Readerin Sherin Nagib erklärt uns, warum wir dringend unsere Gewohnheiten hinterfragen sollten.

Antworten bekommen wir von unserer Gastautorin Sherin Nagib. Sie ist Sensitivity Readerin, Buchautorin und Mama von drei Kindern. Ein Gespräch, das aufzeigt: wir müssen anfangen, unsere Gewohnheiten zu hinterfragen. Wie genau? Das erklärt uns jetzt Sherin.
Dieser Artikel enthält Affiliate Links* Was das genau ist, erfährst du weiter unten bei Sherins Buchempfehlungen.
Liebe Sherin, du bist „Sensitivity Readerin“ und sensibilisiert in Social Media rund um das Thema Alltagsrassismus. Bitte erzähle doch mal: Wie hast du deine Stimme zu dem Thema gefunden und wie war der Weg dahin?

Wenn wir abends von der Arbeit kommen, schmeißen wir uns gern aufs Sofa und schauen einen Film oder eine Serie, lesen oder hören ein Buch. Geschichten, genauso wie Musik oder andere Kunstformen bestimmen einen sehr großen Teil unseres Alltages, reproduzieren aber auch sehr viel Rassismus (und andere -ismen).
Alltagsrassismus: Ich schreibe auf Instagram darüber
Wir konsumieren sie den ganzen Tag – häufig völlig unreflektiert. Das macht etwas mit uns und leider nichts Gutes.
Dem wollte ich entgegenwirken. Darum habe ich angefangen auf meinem Instagram-Kanal @just.melui über solche Themen zu posten und arbeite heute unter anderem als Sensitivity Readerin mit Autor*innen, Lektor*innen und Verlagen an ihren antirassistischen Geschichten.
Warum ist es so so wichtig, dass wir über das Thema Alltagsrassismus sprechen und nicht schweigen?
Ich glaube nicht, dass wir freiwillig schweigen, sondern unsicher sind. Wir wollen es alle richtig oder zumindest besser machen. Daran möchte ich glauben. Aber wir haben Angst, es fehlen uns die Worte oder das Wissen. Dafür habe ich Verständnis.
Gerade strukturelle Diskriminierungsformen, die sich seit Jahrhunderten in unserer Gesellschaft etabliert haben, sind häufig schwierig zu dekonstruieren und zu begreifen. Und welche Person will schon zeigen, dass sie etwas noch nicht ganz versteht? Ich habe aber kein Verständnis dafür, wenn man sich Wissen verschließt. Wir können uns als Gesellschaft nur weiterentwickeln, wenn wir lernen.
Immer wieder erlebe oder lese ich Diskussionen, in denen weiße Menschen sagen oder in Social Media kommentieren, z.B.: „Aber ich wurde auch schlecht behandelt als ich im Ausland war. Das war doch auch rassistisch!“ – könntest du bitte einmal sagen, warum das kein Rassismus ist bzw. den Unterschied zwischen Rassismus und Diskriminierung erklären?
Die Antwort darauf sollte eigentlich auf der Hand liegen. Erstens sind Leute wie ich zum Beispiel hier in Deutschland nicht im Urlaub. Zweitens müssen wir in dem oben genannten Fall unterscheiden zwischen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und ganz allgemeiner Diskriminierung. All diese Formen können sehr verletzend sein.
Weiße Menschen können diskriminiert werden und sich verletzt fühlen. Es ist aber nicht ansatzweise vergleichbar mit Alltagsrassismus.
Aber wenn eine deutsche Person (die als weiß wahrgenommen wird, also nicht rassifiziert wird) im Urlaub, sagen wir zum Beispiel in England oder Italien oder in der Türkei, beleidigt oder diskriminiert oder im Taxi übers Ohr gehauen wird, dann geschieht das vielleicht, weil sie weiß und deutsch ist, aber nicht, weil es ein rassistisches Motiv ist. Hier ist das Motiv vielleicht eine Abneigung gegen Deutsche und das kann auch ziemlich weh tun, aber es ist dann auch nur das: Eine Abneigung gegen Deutsche – oder vielleicht gegen Tourist*innen generell. Es ist vielleicht Fremdenfeindlichkeit. Eine Art der Diskriminierung. Es ist aber kein struktureller Rassismus, der auf der jahrhundertelangen Ausbeutung und Unterdrückung dieser weißen deutschen Menschen basiert. Denn das ist ja nie passiert.
Dementsprechend können weiße deutsche Menschen diskriminiert werden und sich verletzt fühlen. Es ist aber nicht ansatzweise vergleichbar mit Alltagsrassismus. Alltag bedeutet immerhin, dass das die Normalität im Leben einer rassifizierten betroffenen Person ist. Das heißt, sie erlebt diese Feindlichkeiten (und noch weit mehr als das) alle Tage. Das ist kein Urlaub.
„Rassismus steckt leider überall drin und zieht sich wie ein roter Faden durch unseren Alltag.“
Wo fängt Rassismus im Alltag an? In welchen Fragen, Glaubenssätze, Kinderliedern oder „Bräuchen“ (Stichwort Karneval) steckt er heute noch?
Ich würde sagen, der Rassismus steckt leider überall drin und zieht sich wie ein roter Faden durch unseren Alltag: Zum Frühstück trinken wir Kaffee. Woher kommt er, wie wird er ins Land gebracht? Wer profitiert an unserem Kaffeegenuss am meisten? Ist Ausbeutung und struktureller Rassismus Grundlage dafür? Warum heißt es eigentlich Italienischer Kaffee und Schweizer Schokolade? Woher stammt das Mineralwasser, das wir trinken? Woher der Tee, der Reis, der Zimt, der Pfeffer? Die meisten dieser Produkte wurden durch rassistische Strukturen nach Europa gebracht – Stichwort Kolonialismus.
Am Nachmittag wollen wir vielleicht einen Ausflug mit den Kindern machen. Vielleicht in den Zirkus oder in den Zoo? Mal ganz abgesehen von den Tieren – was ist zum Beispiel mit der Geschichte dieses Tierparks? Welche Rolle hat er im grausamen Rassismus des 20. Jahrhunderts gespielt? Das dürfen wir uns immer fragen.
Alltagsrassismus: Wir sollten auch unsere Modetrends hinterfragen.
Am Abend gehen wir kurz noch shoppen oder bestellen uns schöne Kleidung bei einem Online-Anbieter. Wo wurde sie produziert? Zumeist in ausgebeuteten Ländern, die ebenfalls seit langem unter Rassismus gelitten haben. Aber nicht nur die Arbeitsbedingungen in der ausländischen Herstellung sind rassistisch. Auch in unseren Stoffen oder Modetrends steckt Rassismus und kulturelle Aneignung. „Boho“-Muster, Creolen-Ohrringe, Haremshosen, Turbane uvm.
In jeder Situation unseres Lebens hilft es, wenn wir uns hin und wieder mal hinterfragen. Warum ist das eigentlich so? Wer hat das bestimmt? Wer hat dieses Lied geschrieben? Aus welcher Zeit stammt dieser Brauch? Was bedeutet dieser Brauch und warum heißen bestimmte Dinge eigentlich so und nicht so.
Ich fürchte, dass meine Antwort die Leser*innen erschlagen könnte, aber Rassismus steckt überall drin. In unserem Geld, unserem Essen, unserer Kleidung, unseren Festen – überall. Das klingt jetzt sehr negativ, aber das ist es auch. Diese Erkenntnis ist manchmal sehr erdrückend und man fühlt sich ohnmächtig, immerhin kann man die Welt nicht allein verändern. Aber ich finde, dass es hilft, wenn man eben im Kleinen anfängt.
„Ich beobachte, dass Kindertageseinrichtungen problematische Lieder weglassen oder umdichten.“
Bei sich, bei seinen Kindern, beim Fasching in der Kita, beim Kindergeburtstag. Glücklicherweise werden die Eltern damit nicht ganz allein gelassen. Ich beobachte, dass Kindertageseinrichtungen problematische Lieder weglassen oder umdichten – das finde ich fantastisch und dass auch Schulen immer mehr verschiedene Formen der Diskriminierung diskutieren. Das genügt aber noch nicht.
Wir dürfen es uns als Eltern in der Hinsicht nicht zu bequem machen und diese Verantwortung abgeben. Erziehung bedeutet auch, seine Kinder alles zu lehren, was sie für ihr Leben brauchen werden. Unsere Kinder brauchen ein realistisches Bewusstsein davon, wie unsere Gesellschaft funktioniert und wo ihre Schwächen und Probleme sind.
Der erste Schritt, um den Alltagsrassismus hinter sich zu lassen, ist: sich zu hinterfragen und zu lernen.
Wie können wir bei uns selbst anfangen, uns und unsere Glaubenssätze hinterfragen?
Das geht nicht von alleine. Wir müssen lernen und uns öffnen. Und ich weiß, dass viele erschöpft von der Arbeit kommen und ihren wohlverdienten Feierabend genießen wollen – aber, um eine gesunde Gesellschaft ohne Vorurteile großzuziehen, müssen wir uns erstmal selbst weiterbilden und am Puls der Zeit bleiben (Buchvorschläge weiter unten).
Es ist keine Lösung aufzuhören Kaffee zu trinken oder anderes. Denn das würde tatsächlich mehr Probleme und Benachteiligung für Rassismusbetroffene schaffen. Zu lange haben Ausbeutung und Rassismus Abhängigkeiten geschaffen, die nicht einfach verschwinden, wenn wir boykottieren. Stattdessen ist der erste Schritt, sich zu hinterfragen und zu lernen.
Folgende Bücher können wir zum Beispiel lesen:
Hierbei handelt es sich um so genannte Affiliate Links* Für diese Links erhalten wir eine Provision, wenn über den verlinkten Anbieter (Amazon) ein Kauf zustande kommt. Für dich entstehen dadurch keine Mehrkosten. Für das reine Setzen des Links erhalten wir kein Geld.
♥ Tupoka Ogette: “Exit Racism” ; “Und jetzt Du”
♦ Hadija Haruna-Oelker: “Die Schönheit der Differenz”
♥ Nkechi Madubuko: “Erziehung zur Vielfalt”
♦ Olaolu Fajembola & Tebogo Nimindé-Dundadengar: “Gib mir mal die Hautfarbe – Mit Kindern über Rassismus sprechen”
♥ Aladin El-Mafaalani (verschiedene), aber zum Beispiel: „Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand„
„Antirassismus und Antidiskriminierung sind wie Muskeln, die wir trainieren müssen.“
Und wie können wir dann diese Erkenntnisse als Gewinn in den Alltag mitnehmen und hier rassismuskritisch denken lernen?
Ich denke, sobald wir anfangen uns weiterzubilden, passiert das von ganz alleine. Ehrlich. Manchmal lese ich etwas, zum Beispiel über Ableismus und am nächsten Tag fällt es mir wie Schuppen von den Augen, was ich selbst all die Jahre für ableistische Sachen gesagt habe und immer noch sage – denn Antirassismus und Antidiskriminierung sind wie Muskeln, die wir trainieren müssen. Es ist sehr einfach und es ist sehr bequem alles einfach so zu lassen, wie es schon immer war und zu sagen, man meine es ja nicht böse.
Denn auch wenn ich daran glaube, dass die Absicht wichtig ist, so ist es auch sehr wichtig, wie die Dinge bei den Empfänger*innen ankommen. Und wenn ein falsches Wort von uns z.B. für uns nur eine unbeabsichtigte Kleinigkeit ist, dann ist es für die andere Person, die schon seit Jahren oder sogar Jahrzehnten unter Rassismus leidet eine riesige Wunde, in die immer mehr Salz – nein, Tabasco! reingestreut wird. Es wird irgendwann ein unerträglicher Alltag.
Wir vergessen oft die Opfer von Alltagsrassismus!
Ich habe in den letzten Monaten festgestellt, wie tief der Alltagsrassimus oft in den Köpfen verankert ist. Ich habe zum Beispiel gehört „Ich darf meinen Kollegen so nennen, wir meinen das lustig“, als ich darauf hingewiesen habe, dass das N-Wort schon lange ein absolutes No Go sei. Das Gespräch war dann beendet, aber ich habe mich gefragt: Wie kann ich die Menschen mitnehmen und zum Weiterdenken motivieren? Hast du da einen Tipp für mich?
Das finde ich selbst sehr schwierig. Ich finde es super wichtig, dass du deinem Kollegen gesagt hast, dass es nicht geht. Aber seien wir mal ganz ehrlich. War die Info, dass man dieses Wort nicht benutzen soll, für ihn eine Neuigkeit? Wahrscheinlich nicht …
Weißt du, was ich ehrlich gesagt noch viel wichtiger finde? Dass du Betroffenen beistehst, wenn sie angegriffen werden. So, wie es für dich in dem Moment machbar ist. Vielleicht sprichst du mal mit der rassistisch beleidigten Person? Vielleicht gibst du ihm dadurch die Kraft etwas leichter durch den Alltag zu gehen, weil er oder sie sieht, dass sein Leid erkannt wird. Dass es nicht abgetan wird. Dass es wichtig ist, wie er/sie sich fühlt.
Auch wenn es wichtig ist, mit Täter*innen zu reden und sie zu informieren, vergessen wir so oft die Opfer, die Rassismus alle Tage erleben …
„Meine Gesellschaft, meine Welt, meine Zukunft sind antirassistische Kinder.“
Wie können wir unsere Kinder für das Thema sensibilisieren? Vielfalt fängt ja schon im Kinderzimmer an…
Wir können auf eine Buchauswahl achten, die Vielfalt ganz natürlich abbildet. Und wir können, immer, wenn sich das Gespräch anbietet es eben thematisieren. Als ich bei einem Elternabend kritisiert habe, dass die Kinder sich als Karikaturen von indigenen Personen in der Kita verkleiden und das nicht in Ordnung ist, habe ich vorgeschlagen, dass solche Sachen thematisiert werden sollen. Daraufhin erwiderte eine Mutter, die Kinder seien “neuronal” noch gar nicht dazu fähig, solche Informationen zu begreifen. Das ist leider nur eine sehr faule Ausrede von dieser Mutter, um weiter in einer bequemen Scheinwelt zu leben, in der Rassismus nicht existiert. Oder wie Tupoka Ogette es in “Exit Racism” nennt, um weiter in “Happyland” zu leben.
Kinder sind sehr intelligent und empathisch. Sie begreifen auch Obdachlosigkeit und Armut. Warum sollte es ihnen so schwer fallen, Rassismus zu verstehen bzw Antirassismus zu erlernen? Die Kinder, die betroffen sind, sind ja auch nicht zu jung, um Rassismus tagtäglich zu erleben? Wir müssen also aufhören zu unterscheiden zwischen meinem Kind, meiner Familie, meiner Kita, sondern in der Hinsicht größer denken: Meine Gesellschaft, meine Welt, meine Zukunft sind antirassistische Kinder.
Mehr von unserer Gastautorin Sherin Nagib:
♥ Crew
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Eigenwerbung* Unser Podcast zum Thema Alltagsrassismus
Zum Thema Alltagsassismus haben wir für dm glücksind einen Podcast gemacht. Gemeinsam mit unserer Gästin Tebogo Nimindé-Dundadengar beantworten wir die Frage: „Gegen Alltagsrassimus – wie können wir unsere Kinder stark machen?“ Ihr findet die Folge auf allen gängigen Podcast-Kanälen oder direkt hier.
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