Schwangerschaft & Geburt

Verdrängte Schwangerschaft: „Meine Patientin war fassungslos!“

Unsere Gynäkologin klärt über die "Gravitas suppressalis" auf!

von
Dr. med. Judith Bildau

Die verdrängte Schwangerschaft: Ja, die gibt es tatsächlich – und das gar nicht selten.

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Dr. med. Judith Bildau, Gynäkologin, Medfluencerin & Autorin // Credit: Sabina Radtke

Auch, wenn das vielleicht erstmal schwer vorstellbar ist. Ich selbst habe es sowohl in meiner Ausbildungszeit in der Klinik, als auch in meiner eigenen Praxis erlebt. Und war persönlich sehr ergriffen und betroffen in diesen Situationen.

Doch erst einmal von Anfang an – was bedeutet eigentlich eine ‚verdrängte Schwangerschaft‘?

Gravitas suppressalis: Ich habe die verdrängte Schwangerschaft persönlich erlebt.

Die verdrängte Schwangerschaft heißt auf Latein ‚Gravitas suppressalis‘, übersetzt also die ‚unterdrückte Schwangerschaft‘. Wichtig ist der Unterschied zwischen ‚verdrängter Schwangerschaft‘ und ‚verheimlichter Schwangerschaft‘. Bei der ‚verheimlichten Schwangerschaft’ weiß die Frau um ihren Zustand, allerdings verheimlicht sie ihn vor ihrem Umfeld.

Zahlen zeigen, dass das Phänomen der verdrängten Schwangerschaft gar nicht so selten ist, wie man zunächst vielleicht vermutet. Der Berliner Arzt Jens Wessel veröffentlichte im Jahre 2002 eine sehr interessante Studie dazu (Wessel J., Endrikat J., Buscher U., Frequency of genial of pregnancy; Acta Obstetrica et Gynecolocica Scandinavia, 2002). Dort wurde gezeigt, dass eine Schwangerschaft, die bis zur 20.Schwangerschaftwoche nicht erkannt wurde, eine Inzidenz von 1:475 hat und eine Schwangerschaft, die unerkannt bis zur Geburt blieb, eine Inzidenz von 1:2455. Also gar nicht sooo selten…

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Meine Patientin: Schwangerschaft in der 27. Woche entdeckt.

Ich denke an eine meiner Patientinnen aus der Praxis. Sie hatte sogar jahrelang einen ausgeprägten Kinderwunsch. Ihr unregelmäßiger Zyklus machte die Erfüllung ihres Kinderwunsches nicht einfach. Sie und ihr Partner hatten sich gegen unterstützende Maßnahmen entschieden und wollten der Natur ihren Lauf lassen. Jahrelang passierte nicht. Irgendwann erschien sie, zunächst völlig erschüttert, in der 27. Schwangerschaftswoche in meiner Praxis, mit einem Mutterpass in der Hand. Sie war am Wochenende in der Notaufnahme gewesen, weil sie ausgeprägte Wassereinlagerungen in den Beinen bemerkt hätte. Außerdem wäre sie so wenig belastbar in letzter Zeit gewesen und beim Treppensteigen käme sie so schnell aus der Puste.

Frauen fühlen sich um ihre Schwangerschaft betrogen!

Die Internisten hätten sie sofort untersucht und beim Ultraschall der inneren Organe wäre dann die doch sehr fortgeschrittene Schwangerschaft aufgefallen, die die hinzugezogenen Frauenärzte schließlich auf die 27. Schwangerschaftswoche terminiert hätten. Meine Patientin war fassungslos. Wie konnte ihr so etwas passieren? Hatte sie so ein schlechtes Körpergefühl? Zu ihrer Fassungslosigkeit gesellte sich auch bald so etwas wie Wut hinzu – sie fühlte sich um mehr als die Hälfte der Schwangerschaft ‚betrogen’! Warum diese Patientin selbst nicht bemerkt hatte, dass sie – endlich – schwanger war, kann ich letztendlich nicht abschließend beurteilen. Rein medizinisch kann man sagen, dass im Zweifel das Erkennen der Schwangerschaft erschwert wurde, durch den sehr unregelmäßigen Zyklus und auch das deutliche Übergewicht der Patientin, weswegen der Bauch auf den ersten Blick nicht offensichtlich war.

Eine andere Patientin, eine Studentin im Prüfungsstress, brach in meiner Praxis regelrecht zusammen, weil ein Kind so gar nicht in ihre damalige Lebenssituation passte und auch der Beziehungsstatus zum Kindsvater noch ungeklärt erschien. Sie war ebenfalls bereits weit über der 20. Schwangerschaftswoche.

Der Berliner Frauenarzt und Psychotherapeut Peter Rott hat sich mit dem dem Thema der ‚verdrängten Schwangerschaft’ sehr ausführlich beschäftigt und in einer Übersichtsarbeit (Rott P., Wie die Jungfrau zum Kinde; Deutsche Medizinische Wochenschrift, 2016) herausgearbeitet, dass es hinsichtlich der betroffenen Frauen keinen Unterschied in Alter, Herkunft, sozialem Status und Bildung gibt. Zudem waren die Frauen gleichermaßen bereits schon einmal schwanger und die meisten befanden sich in einer festen Partnerschaft.

Verdrängte Schwangerschaft: Es betrifft gesunde Menschen. Frauen, die nicht lügen.

Peter Rott betont immer wieder, dass es sich bei den Frauen um gesunde Menschen handelt, die nicht lügen. Vielmehr ist es ein innenpsychischer Konflikt, in dem sie sich befinden, der zu dieser ausgeprägten Verdrängungsform führt. Dieser kann sehr vielfältige Ursachen haben, gemeinsamer Gedanke aber ist: Es kann nicht sein, was nicht sein darf! So werden typische Schwangerschaftszeichen, wie Übelkeit (Stress!), Ausbleiben der Regelblutung (immer dieser unregelmäßige Zyklus!) und Gewichtszunahme (ich komme einfach nicht dazu, Sport zu machen!) rationalisiert, um der Realität nicht ins Auge blicken zu müssen.

Jede Frau hat ihre eigene Geschichte, jede ihr eigenes, ganz persönliches Innenleben. Sicherlich kann eine verdrängte Schwangerschaft durch eine innere Ablehnung der Schwangerschaft entstehen. Vielleicht ist die Partnerschaft doch nicht so intakt, wie man es sich eigentlich wünscht, vielleicht fühlt man sich innerlich im Grunde überhaupt gar nicht bereit dafür, in die Mutterrolle zu schlüpfen? Muss es aber nicht. Eine Verdrängung der Schwangerschaft ist auch möglich, wenn es insgeheim einen ausgeprägten Kinderwunsch gibt und im Zweifel rationale Gründe dagegen sprechen und die Frau deshalb in den Verdrängungsmodus schaltet, um den Zeitpunkt für einen möglichen Abbruch zu ‚verpassen‘.

Verdrängte Schwangerschaft: Empathie für die betroffenen Frauen!

Oder der mögliche Druck von außen Richtung Abbruch wird so umgangen. Peter Rott weist in allen seinen Arbeiten und auch Interviews darauf hin, dass betroffenen Frauen mit viel Empathie und Fürsorge begegnet werden sollte. Neben der psychischen Belastung, die durch eine schließlich erkannte verdrängte Schwangerschaft entsteht, fehlt ja auch ein gewisser Teil der Vorbereitungszeit auf das Kind und das gemeinsame Leben als Familie. Oft ist deshalb eine psychosoziale Betreuung der Frauen notwenig.

Meinen Patientinnen, die ich in dieser Situation begleiten durfte, geht es – glücklicherweise – allen gut! Alle haben ihre Kinder sicher und gesund auf diese Welt gebracht und, so wie ich es einschätze, möchte keine der ‚überraschten‘ Mütter ihre Rolle wieder tauschen. Die Studentin sagte später zu mir, sie erinnere sich noch genau daran, wie ich vor ihr saß und sie mich fragte, was um Himmels willen jetzt tun solle. Ich habe wohl geantwortet:

„Vertrauen. Es wird alles gut.“

Manchmal ist es natürlich nicht so einfach. Manchmal aber auch schon. Und meiner Meinung nach ist auch hier, wie so oft im Leben, das Verständnis füreinander wichtig. Die Frauen, die ich in dieser Situation begleitet habe, haben sich letztendlich dafür geschämt, dass ihnen ‚so etwas‘ passiert ist. Sie hatten Probleme damit, Freund*innen und Familienmitgliedern davon zu erzählen. Und wenn sie es taten, wurden sie belächelt, manche sogar als ‚Lügnerinnen‘ bezeichnet, häufig wurde ihnen eine ‚böse Absicht‘ unterstellt.

Lasst uns einfach verständnis- und liebevoll miteinander umgehen!

Wenn ich also eines während meiner hauptberuflichen Zeit als Frauenärztin gelernt habe, ist, dass es oft an gegenseitigem Verständnis füreinander fehlt. Oft wären meine Patientinnen, auch wenn sie sich in schwierigen, für andere vielleicht unvorstellbaren oder nicht nachvollziehbaren, Situationen befanden, im Grunde mit dieser irgendwie gut klar gekommen, wenn … ja, wenn … nicht oft andere Menschen da gewesen wären, die be- und verurteilt hätten. Deswegen werde ich auch unter diesem Blogbeitrag nicht müde, darum zu bitten:

Lasst uns einfach verständnis- und liebevoll miteinander umgehen! Es gibt Geschichten, die gibt es eigentlich gar nicht, die gibt es am Ende aber doch und hinter jeder stecken echte Menschen – und das ist ganz wunderbar!

♥ Zum Thema haben wir auch eine Podcast-Folge mit Judith aufgenommen (Eigenwerbung*), Titel: „Mutterpass, Ultraschall, Screenings – Schwangerschaftsvorsorge einfach erklärt“ (HEY Familie findest du nicht nur bei Apple, sondern auf allen gängigen Podcast-Kanälen).

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